Zeichnung

Die Glocken von St. Laurentius in Roßtal
Zeichnung von Konrad Hacker

Gerhard Deeg

Jeder hört sie, doch man sieht sie nicht
Erläuterungen zu den Glocken der Laurentiuskirche in Roßtal

Am 23. November 2006 hielt ich zu diesem Thema in Roßtal einen Vortrag. In den »Roßtaler Heimatblättern« sollen nun jene vier Glocken ausführlich beschrieben werden. Dabei liegt der Schwerpunkt eindeutig auf den Inschriften und den bildlichen Darstellungen auf diesen Glocken. Doch bevor ich auf die einzelnen Glocken eingehe, möchte ich in aller Kürze einige allgemeine Bemerkungen zu „Glocken“ vorausschicken.

Glocken bestehen in der Regel aus Bronze, einer Kupfer-Zinn-Legierung mit Anteilen aus 78 % Kupfer und 22 % Zinn. Ein Berufszweig, der es im ausgehenden Mittelalter in den Städten zu großer Blüte brachte, waren die Geschütz- und Glockengießer, woraus ersichtlich wird, dass neben Glocken auch Geschützrohre und Mörser, aber auch Epitaphien, Brunnenfiguren, ja ganze Reiterstandbilder aus Bronze entstanden. Oft blieb das Handwerk in einer Familie, die dann die Gießtechnik immer mehr verbesserte und verfeinerte. So kennen wir aus Nürnberg die Gießerfamilien Kessler, Glockengießer und Herold. Jene Familie Herold hat vor allem für Roßtal eine besondere Bedeutung erlangt, hat sie doch Glocken für die Laurentiuskirche in Roßtal und für die Tochterkirche in Buchschwabach gegossen. Eine beinahe tausendjährige Kirche wie die in Roßtal hat sicherlich mehrere Glockengenerationen erlebt, weil immer wieder Turm und Kirche durch Blitzschlag in Brand gesteckt wurden und ausbrannten, wobei die Glocken in der großen Hitze zerschmolzen und somit gänzlich unbrauchbar wurden. Diese Vorgeschichte zu den jetzigen Glocken stellt Adolf Rohn in seinem nach wie vor überaus lesenswerten »Heimatbuch von Roßtal und Umgebung« dar. Außerdem verweise ich auf den Beitrag »Ein merkwürdiger Blitzschlag« von Alfred Steinheimer in den »Roßtaler Heimatblättern« im Heft II von 1985.

Wenn ich nun in der Folge die vier sehr alten Kirchenglocken, die auch heute noch vom Turm der Laurentiuskirche erschallen, bildlich darstellen und beschreiben werde, so werde ich mich auf drei Quellen stützen. Das ist zum einen aus der Buchreihe »Der Deutsche Glockenatlas« der Band über die Kirchenglocken in Mittelfranken. Wiederum konnte ich auf die Ausführungen von Adolf Rohn im oben genannten Heimatbuch »Von den Glocken« zurückgreifen, und drittens erfolgten vielfache gründliche Untersuchungen der Glocken vor Ort, also in luftiger Höhe in der Glockenstube mit nicht uninteressanten neuen Details.

Skizze

Lage der Glocken im Kirchturm


Die Elfuhrglocke

Foto
gegossen:1702 von Johann Conrad Roth (Forchheim)
Gewicht:1600 kg
Durchmesser:  135,5 cm
Höhe:103 cm
Ton:d

Hammer schlägt die Anzahl der Stunden zum ersten Mal an
(8.00 -> 8 mal)

Umlaufende Kroneninschriften (zweizeilig)

IOHANN CONRAD ROTH HAD FORM VND LEBEN DORT IN
VORCHEIMB MIR GEGEBEN VND MICH GANTZ GEGOSSEN NEW
IN JAHR SIEBENZEHEN HVNDERT ZWEY
ZV EHREN GOTTES ICH ERKLINGE ZVR TRAVER VND FREVD
DEN THON ICH BRINGE

darunter: umlaufendes Friesband aus Akanthusranken

darunter: Ornamente aus Puttenköpfen und Fruchtgehängen im Wechsel

Inschriften auf der Flanke nach Süden (Pfarrhaus):

VNSERN FÜRSTEN GOTTES GÜTHE
LEITE SCHÜZE VND BEHÜTHE

G • F • M • Z • B1

ER LASS IN
KAYSERS RECTEN
SEINEN ARM
GLÜCKLICH
FECHTEN
Fürstenhut
Wappen (5x3 Felder)
mit Kartusche2 von 2 Löwen
gehalten
SÜVD VND WESTEN
MVSTE WEICHEN
VND VON GOTTES
ALLMACH ZEIGEN
(= zeugen)

ES SCHÜZE DEN HELDEN DAS ENGLISCHE3 HEER
SIEGPRANGEND ER GEHE WIE GIDEON HER DAN SOLLE
DIS ERTZE ERTHÖNEN VND KLINGEN DEM HÖCHSTEN
SOLL VNSER MVND DANCKEND LOB SINGEN

darunter: 3 umlaufende Ringe (Stege genannt)

am unteren Glockenrand zwischen je 2 Stegen ein Friesband aus Ranken und Füllhörnern mit Früchten im Wechsel

1GFMZB: Georg Friedrich Markgraf zu Brandenburg (stand im kaiserlichen Heer gegen Frankreich und kämpfte im Span. Erbfolgekrieg)
2Kartusche: ornamental geschmückter Rahmen (Lorbeer- oder Palmblätter)
3Das englische Heer = das Engelsheer (analog der Englische Gruß = Engelsgruß in St. Lorenz in Nürnberg)


Die Zwölfuhrglocke

Foto
gegossen:1736 von Christian Victor Herold (Nürnberg)
Gewicht:2300 kg
Durchmesser:  156,5 cm
Höhe:120 cm
Ton:cis

Hammer schlägt die Anzahl der Stunden zum zweiten Mal an

am oberen Glockenrand Fries aus Ornamenten darunter umlaufende Inschrift:

GOSS MICH CHRISTIAN VICTOR HEROLD IN NÜRNBERG

darunter Fries aus großen hängenden Akanthusblättern

Inschriften auf der Flanke nach Norden (zum Torturm):

UNTER GLÜCKSEELIGER REGIERUNG
DES DURCHL. FÜRSTEN UND HERRN
HERRN
CARL WILH. FRIED.
M ZB HIP

Herzogshut
Brandenburg. Adler,
aufgelegt Hohenzollernschild,
umgeben von Kartusche aus
Palmenzweigen

darunter:

SO OFFTMALS DIESES ERTZ MIT SEINEN SCHALL ERTHÖHNT
WERD UNSER FÜRSTENHAUS MIT NEUEN HEIL GECRÖNT

Inschriften auf der Flanke nach Süden (Pfarrhaus):

DIESE GLOCKEN, SO IM XVII SEC. ZWEYMAL DVRCH
VNGLÜCKL. BRAND ZERSCHMOLZEN, VND A. 1728
DVRCH EINEN SPRVNG VNBRAVCHBAR WORDEN,
IST IM IAHR MDCCXXXVI DVRCH GOTTES GNADE
WIDER VON DER GEMEINDE HERGESTELLET
ALS
IHRO HOCHFREYHERRL. GNADEN, HERR LVDW.
GEORG CHRIST. V SCHLAMERSTORF OBERAMTMAN
ABRAH. HEINR. LIPS PFARRER
IOH. SAMV. BIEBELT DIAC. - IOH. GOTTFR. RÖTTER
RICHTER-BARTH. WOLF. BVRGERM. - IOH. CASP.SCHNEIDER VND
IOH. SCHIKER HEYL. PFLEGER
WAREN

über dem Schlagring: drei Stege

die Kronenbügel der Aufhängung mit „Blattmasken“ (Köpfe im Profil)


Die Taufglocke

Foto
gegossen:1702 von Johann Conrad Roth (Forchheim)
Gewicht:640 kg
Durchmesser:  100 cm
Höhe:72 cm
Ton:g

umlaufende Kroneninschriften (zweizeilig):

HEILIG HEILIG HEILIG IST GOTT DER HERR ZEBAOTH ALLE LAND SIND SEINER EHRE VOLL

DAS ICH ERZ ZVM KLANG GEBRACT HAT IOHANN CONRAD ROTH GEMACT ZV VORCHEIM ANNO MDCCII

Flanke nach Norden (Torturm)

Pieta (Vesperbild)

darunter vierzeilige Inschrift:

HER IESV DIR SEY DIS GELEYT
ZVR EHR VND DIENST ALLEIN ERGEBEN
BEWARS FVR FEVER VND BOESER ZEIT
FVR VNS AVS GNAD INS EWIGE LEBEN

am Schlag über dem Friesband die Namen

STEPHAN ROTH PETER LIST

Flanke nach Süden (Pfarrhaus):

oben Schriftband: G•F•M•Z•B

darunter Fürstenhut

anschließend: Wappenfeld (5x3 Felder) mit barocker Kartusche

In der Wappenkartusche befindet sich nur schwer erkennbar folgendes Schriftband:

Linke Hälfte (vom Betrachter aus)

SYMB (olum) SER (enissimi) PRINC (ipis)

übersetzt: Wahlspruch des durchlauchtigsten Fürsten

Rechte Hälfte:

VIRTV (s) TVTISS (ima) PIETAS

übersetzt: Die verlässlichste Tugend ist die Frömmigkeit

Da diese Glocke 1702 vom gleichen Gießer gegossen wurde wie die Elfuhrglocke, wiederholen sich die typischen Rothschen Ornamente (siehe die Beschreibung dort).


Die Gebetglocke

Foto
gegossen:1702 von Johann Conrad Roth (Forchheim)
Gewicht:930 kg
Durchmesser:  117 cm
Höhe:91 cm
Ton:e

Glockenschlag 1-mal zur Viertelstunde, 2-mal zur halben Stunde, 3-mal zur Dreiviertelstunde und 4-mal zur vollen Stunde.

Am oberen Rand zwei umlaufende Inschriften:

TVAM • REX • CHRISTE • RED • GLOR • LAVDEMQVE • SONOR • HAEC • AERA • CREPABVNT

Übersetzung: Deinen Ruhm und dein Lob oh Christus, König und Erlöser, wird dieses Erz durch seinen Klang verkünden

NOS • PER • FVLM • EXVSTAS • AVDAC • ET • FRAVD • MICH • ARNOLDI • NORIMB • PESS • CONFL • MAN • ERIP • IOH • CVNR • ROTH • EL • MOGVNT • FVS • FELIC • REFVND : A : MDCCII

Übersetzung: Uns, die durch einen Blitz zerschmolzen wurden und aus der Hand des unverschämten und betrügerischen Nürnbergers Michael Arnold, der ganz schlecht gießt, entrissen wurden, stellte in glücklicher Weise Johann Konrad Roth, Glockengießer des Mainzer Kurfürsten, wieder her. Anno 1702

Wappen auf der Südseite der Glocke (zum Pfarrhaus hin)

gleiches Wappen wie auf der Taufglocke (siehe Beschreibung dort)

Inschrift auf der Nordseite der Glocke (zum Torturm hin)

Die Inschrift, die überaus klein gehalten ist, wird von einer ovalen Kartusche aus Lorbeerzweigen eingerahmt

Q•D•B•V
IOSEPH I • REGI • ROMAN •
AVGVSTO • LIBERT • EVROP
EX • GALLO HISP • MACH RESTITVTORI TER
MAXIMO ANNI MDCCII
TEMP QVO HAEC CAMP
REFVSA AD ARMATRA
RHENANA HOS FINES
PERMEANTI FIDI GERMAN TRIVMPH
ICTORIAMQ
PRECANT
CIVES

Übersetzung: Was Gott gut wenden möge. Für Joseph I., den erhabenen römischen König, den Erneuerer der Freiheit Europas aus den französ.-span. Wirren heraus, der abermals gegen Ende des Jahres 1702, als diese Glocke neu gegossen wurde, auf dem Weg zu den Waffenplätzen am Rhein hier durchzog, erbitten treue deutsche Bürger triumphalen Sieg.

Ornamente wie bei Elfuhrglocke und Taufglocke.

An dieser Stelle danke ich meinem guten Bekannten, Herrn Hermann Stürmer aus Ansbach, für die nicht einfache Übersetzung der lateinischen Texte. Bleibt zum Schluss die Hoffnung, dass mancher Kirchenbesucher die Stufen zur Glockenstube im Turm erklimmt, um jetzt die alten Glocken ungleich genauer zu betrachten.


Günter Liebert

Die Gebetsuhr von St. Laurentius –
ein Spiegelbild des mittelalterlichen Lebens in Roßtal.

Betrachtet man die südliche Seite des Kirchturms der Laurentiuskirche etwas genauer, dann entdeckt man wenige Meter unterhalb der großen Sonnenuhr einen Sandsteinquader, der von einem Steinmetz in besonderer Weise mit dem Meißel bearbeitet wurde. Erkennbar ist ein Halbkreis, der in acht gleichgroßen Segmenten unterteilt ist und die ganze Fläche des Quaders bedeckt. Auch der Eisenstab als Schattengeber fehlt nicht.

Foto

Die kanoniale Sonnenuhr
am Kirchturm der Laurentiuskirche

Sonnenuhren dieser Art wurden in Europa zwischen dem 8. und 15. Jahrhundert an nach Süden gerichteten Wänden von Kirchen angebracht. Sie waren keine Zeitmesser im heutigen Sinne, sondern hatten die Aufgabe, den lichten Tag in bestimmte Zeitabschnitte für die gemeinsamen Gebetszeiten der Klöster- und Priestergemeinschaften anzuzeigen. Daher werden sie in der Fachsprache als kanoniale Sonnenuhren bezeichnet. Sonnenuhren hingegen, die die Zeit in heutigem Sinn anzeigen, verbreiteten sich erst ab dem 16. Jahrhundert.

Das Alter dieser kanonialen Sonnenuhr läßt sich leider nicht bestimmen. Die Bauzeit des Kirchturmes setzt man zwar in die erste Hälfte des 14. Jahrhunderts. Aufgrund von Ausgrabungsbefunden konnte man feststellen, daß der Turm in das romanische Langhaus eingeschoben wurde, wobei Teile des Westschiffes abgerissen wurden.1 Es ist daher nicht auszuschließen, daß der Sandstein mit der kanonialen Sonnenuhr in der ursprünglichen Außenwand eingebunden war und in dem Kirchturm einen neuen Platz gefunden hat. Von der Zweckbestimmung her war es ein idealer Standort, liegt er doch im Blickfeld des Pfarrhauses, das schon um 1400 dort seinen Platz hatte. Nach neueren Erkenntnissen muß es schon einen Vorgängerbau gehabt haben. Es ruht auf Fundamenten, die man bisher als Teil der ursprünglichen Burgmauer angesehen hat.2 Doch die durchgeführten Ausgrabungen anläßlich der Erneuerung der Schulstraße im Jahr 2004 haben gezeigt, daß die Burgmauer ca. 25 m südlich vom Pfarrhaus vorbeiführte.

Die kanoniale Sonnenuhr hat den durch einen Blitzschlag ausgelösten großen Kirchenbrand von 1627 zweifellos schadlos überstanden. Denn im Germanischen Nationalmuseum wird eine kolorierte Federzeichnung eines Nürnberger Baumeisters namens Bien aufbewahrt, die die Ruine der Roßtaler Kirche nach diesem Brand zeigt. Nach dieser Zeichnung wurde nur die Turmspitze ein Opfer der Flammen. Die Roßtaler Gebetsuhr zählt zu den wenigen Exemplaren in Europa, die sich über die Jahrhunderte hinweg bis heute erhalten haben.

Die Stundengebete begleiteten den Tagesablauf der Kleriker und Ordensmitglieder. Sie fanden täglich alle drei Stunden statt. Mit einigen Veränderungen gelten sie auch heute noch. Das Stundengebet besteht aus Psalmen, Hymnen, Bibel- und Kirchenvätertexten, Responsorien (kirchlicher Wechselgesang) und Gebeten. Diese sind den Wochentagen und den entsprechenden Gebetszeiten zugeordnet. Im Einzelnen lauten die Gebetstunden wie folgt:

Die erste Gebetszeit gegen 2 Uhr morgens war der Matutin, das Morgengebet. Mit Sonnenaufgang schloß sich die Laudes (Morgenlob) an. Dann folgten alle drei Stunden von etwa 6 Uhr bis 15 Uhr die Prim, die erste Stunde, Terz, die dritte Stunde, Sext, die sechste Stunde und Non, die neunte Stunde. Die Vesper, auch Abendlob genannt, und die Komplet, das Nachtgebet, beendeten den Tag.

Der einzelne Pfarrer einer Dorfgemeinde bedurfte zur Einhaltung dieser Gebetsstunden keiner solchen Sonnenuhr, er folgte seiner inneren Uhr. Da aber dieses innere Zeitgefühl bei den einzelnen Menschen variiert, war man in einer größeren Gemeinschaft auf eine Sonnenuhr angewiesen. Hier liegen die Gründe für die Entstehung der kanonialen Sonnenuhren.

Der heutige Mensch wird vielleicht dieser tiefen Religiosität mit Befremden gegenüberstehen. Diese vielen Gebete, die einen großen Teil des Tages in Anspruch nahmen, entsprangen bei den mittelalterlichen Menschen jedoch einem tiefen Bedürfnis. So ist uns von Einhard, dem Biographen Kaiser Karl des Großen überliefert, daß der Kaiser, wenn er in Aachen weilte und sein Befinden es erlaubte, morgens und abends und auch bei den nächtlichen Horen (Gebetsstunden) in der Kirche weilte und an den gemeinsamen Gebeten teilnahm.

Nicht wenige werden sich vielleicht verwundert fragen, wozu man in Roßtal eine solche Sonnenuhr benötigte. Nirgends ist dokumentiert, daß es hier ein Kloster gegeben haben könnte, noch gibt es schriftliche Hinweise für eine größere Gemeinschaft von Priestern in früh- und spätmittelalterlicher Zeit. Man weiß zwar, daß die Laurentiuskirche von einer Irmingard errichtet wurde, daß sie eine Schwester der Kaiserin Kunigunde in Bamberg gewesen ist und von den Menschen als Heilige verehrt wurde. Dies wurde uns von Bruschius, einem Mann, der sich allgemein für die Geschichte interessierte, daher durch die Lande reiste und 1530 im benachbarten Kloster Heilsbronn weilte, schriftlich überliefert. Er muß auch das prächtige Hochgrab in der Roßtaler Laurentiuskirche, das den Leichnam der hl. Irmingard barg, gesehen haben. Vermerkt hatte er in seinem Bericht auch, daß ihr Grab von vielen Gläubigen besucht wurde.

Wer war diese Irmingard und warum errichtete sie gerade in Roßtal um das Jahr 1000 eine romanische Kirche in einer Größe, die weit über die Bedürfnisse der Ortsbewohner hinausging? Nach einer vorsichtigen Schätzung dürften zu dieser Zeit einschließlich der Kinder nicht mehr als 190 Menschen auf dem oberen Markt von Roßtal gelebt haben.3 Wahrscheinlich war die Einwohnerzahl noch kleiner, aber keinesfalls größer. Denn unterhalb der ehemaligen Burganlage gab es damals nur den Schwalbenhof. Wegen des sumpfigen Geländes gab es dort seinerzeit keine weiteren Gehöfte. Von den Außenorten dürfte es zu dieser Zeit nur Weitersdorf gegeben haben, denn der Name dieses Ortes ist slawischen Ursprungs.

Für den Bau der Roßtaler Kirche in dieser Größe muß es also einen anderen Beweggrund gegeben haben. Irmingard stammte aus dem seinerzeit bekannten, einflußreichen und vermögenden Luxemburger Grafenhaus. Sie hatte 9 Geschwister. Ein Bruder war Herzog von Bayern, ein anderer Bischof von Metz. Am bekanntesten ist ihre Schwester Kunigunde, Gemahlin Kaiser Heinrichs II., die beide im Bamberger Dom in einem Hochgrab bestattet sind und nach ihrem Tode wegen ihrer großen Frömmigkeit heilig gesprochen wurden. Wie kam diese Irmingard von Luxemburg überhaupt nach Roßtal, einem Ort, den außerhalb der Gemarkungsgrenze damals kaum jemand kannte? Um tiefer in diese Frage einsteigen zu können, ist man auf in sich schlüssige Vermutungen angewiesen, denn weder Dokumente noch Berichte oder sonstige Hinweise aus dieser Zeit geben darüber irgendeine Auskunft.4

Damals stand die Wende vom Jahr 999 auf das Jahr 1000 bevor und mit dem Eintritt in das neue Jahrtausend war der Glaube des nahenden Weltunterganges verbunden. Innerlich bereiteten sich viele Menschen darauf vor. Das kaiserliche Ehepaar, das wegen seiner Kinderlosigkeit keine direkten Nachfahren hatte, die für ihr Seelenheil hätten beten können, war daher in großer Sorge. Diese Sorge ist uns überliefert.5 Vermutlich erhofften sie sich diesen christlichen Beistand von der Schwester Irmingard. Schließlich hatte Irmingard, wie wir heute wissen, das Amt einer Äbtissin inne und war daher für diese fromme Aufgabe besonders prädestiniert.6 Roßtal lag nicht weit von Bamberg weg, es war noch lehensfrei, so daß der Kaiser frei darüber verfügen konnte.7 Hinzu kam die günstige Lage auf dem Bergsporn mit einer wohl noch intakten Burgmauer, die genügend Schutz bot und im heutigen Sinne schon über eine gewisse Infrastruktur verfügte.

Als Irmingard nach Roßtal kam, um dort eine große romanische Kirche zu errichten, kam sie nicht allein. Als Mitglied eines berühmten und reichen Grafenhauses und als Äbtissin hatte sie Anspruch auf Bedienstete. Zu dem Troß gehörten daher für ihre persönlichen Bedürfnisse neben Klosterschwestern und Dienstboten wohl auch Handwerker, die den Bau der Kirche vorbereiteten. In dieser Zeit müssen die Anfänge der gemeinsamen Stundengebete in Roßtal liegen. Nachdem es keinerlei Hinweise für ein früheres Kloster in Roßtal gibt, ist anzunehmen, daß sich diese klösterliche Gemeinschaft in späterer Zeit aufgelöst hat.

Die ersten Wallfahrten zu dem Hochgrab der hl. Irmingard in der Laurentiuskirche müssen bald nach ihrem Tod begonnen haben. Allein das Hochgrab unterhalb des Marienaltars, das ähnlich so großartig und wunderschön wie das des Kaiserpaares im Bamberger Dom gewesen sein soll, ist ein Hinweis für die übergroße Verehrung, die ihr wohl schon vor ihrem Tode erwiesen wurde. Ein solches Hochgrab gestand man im Mittelalter nur wenigen Frauen zu. Die ehemals reiche Ausstattung der Kirche ist ein Zeugnis dafür, daß die Wallfahrer keineswegs nur aus dem Umkreis von Roßtal kamen. Das bezeugen auch zwei Dokumente, die einzigen überhaupt, die über diese Wallfahrten berichtet haben.

Das älteste Zeugnis darüber ist ein Heldenepos über Herzog Ernst, der ebenfalls in einem Sarkophag nahe dem Hochgrab der Irmingard bestattet war. Da zu dieser Zeit der Buchdruck noch unbekannt war, wurde dieses Heldengedicht wiederholt von Mönchen, sie waren die wenigen, die des Schreibens kundig waren, abgeschrieben. In einer dieser Abschrift, man ordnet sie in die Zeit zwischen 1277 und 1285 ein, schreibt dieser Verfasser unter Hinweis auf Roßtal in Versform:

Da lieget auch, die hat besiegt,
den Weltgruß, Frau Irmingard.
Zu ihren Gnaden ist große Wallfahrt.
Gott viele Zeichen durch sie tut
Der gebe uns auch ein Ende gut.

Das Wort „Weltgruß“ war im Mittelalter die Umschreibung dafür, daß man der Welt entsagt und das klösterliche Leben gewählt hat. Mit „große Wallfahrt“ wird zum Ausdruck gebracht, daß viele Wallfahrer zur heiligen Irmingard kamen.

Ein weiteres Dokument, das die Wallfahrten nach Roßtal bestätigt, ist eine Notiz von Veit Arnpeck. Er war Historiker und Priester zugleich und lebte seit 1468 in Landshut. Er schrieb an einer Chronik über Bayern. In seinen Unterlagen fand sich ein Zettel, der auf Roßtal Bezug nimmt und unter anderem mit den Worten auf Irmingard hinweist „deren Grabstätte von vielen Gläubigen besucht wird“. Da Luther grundsätzlich Wallfahrten ablehnte, fanden diese mit der Reformation in Roßtal ein Ende.

Aus dieser Notiz von Arnpeck darf man schließen, daß die Wallfahrtsstätte in Roßtal weit über die Grenzen des fränkischen Raumes hinaus bekannt war und daher so mancher Pilger schon einen tagelangen Weg hinter sich hatte, bis er vor dem Hochgrab der hl. Irmingard stand. So wie wir es von anderen bekannten Wallfahrtsstätten wissen, muß auch in Roßtal schon sehr früh für die notwendige Unterkunft und Verpflegung der Pilger gesorgt worden sein. In der bereits erwähnten Siedlungsskizze (siehe Fußnote 7) von Roßtal für die Zeit um 1500, die uns Kreutzer hinterlassen hat, sind auch die beiden Gasthäuser »Zum Weißen Lamm« und »Zur Sonne« eingetragen.8 Beide Gasthäuser waren damals sogenannte Gotteslehen, d. h. sie waren Eigentum der Kirche. Das Wort „Gotteslehen“ besagte „ein Lehen von Gott“, also nicht ein Lehen vom Kaiser oder Landesherrn, das seinerzeit bei Ungehorsam hätte zurückgefordert werden können. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Kirche auf dem oberen Markt neben dem Pfarrhaus sieben weitere Häuser als Gotteslehen in Besitz hatte und mehr als die Hälfte des Grundes auf dem oberen Markt der Kirche gehörte. Wir dürfen daraus schließen, daß die hl. Irmingard Teile des oberen Marktes als Geschenk und nicht als Lehen vom Kaiser Heinrich II. entgegennahm.

Aus diesem Besitz flössen der Kirche wohl erhebliche finanzielle Mittel zu. Eine weitere Geldquelle waren Spenden und Schenkungen der Wallfahrer. Solche Pfründe weckten die Begehrlichkeiten, weshalb die Pfarrstelle oftmals von Adeligen eingenommen wurde, obwohl sie ihre Wirkungsstätte an weit entlegenen Orten innehatten und sich daher nur gelegentlich in Roßtal sehen ließen.

Weiteren Aufschluß über das kirchliche Leben im mittelalterlichen Roßtal gibt uns die Ausstattung der Laurentiuskirche. In der oben erwähnten Notiz von Arnpeck schreibt dieser über die Roßtaler Kirche folgendes: „In dem Gebiet des Nürnberger Burggrafen im Dorf Roßtal 2 Meilen (1 Meile = 7,5 km) von Nürnberg entfernt zwischen Cadolzburg und Ansbach ist ein sehr wertvolles Gotteshaus mit 9 Altären, dem keines ähnlich ist auf 15 Meilen (=112 km) in keinem Dorfe bei Nürnberg.“ Mehr erfahren wir noch über die wertvolle Ausstattung der Kirche aus einer Brandmeldung an die Regierung in Ansbach im Jahre 1627. Damals brannte durch Blitzschlag die Kirche nieder. Man teilte der Regierung mit, daß im Kirchenraum sechs künstlerisch geschnitzte Altäre, drei Emporkirchen sowie Epitaphien und Gemälde verbrannt sind. Emporkirchen bedeutet, daß drei Altäre aus Platzgründen auf der Empore errichtet waren. Epitaphien sind an der Kirchenwand oder Säulen angebrachte Gedenktafeln für Verstorbene, oftmals mit einer Darstellung des Verstorbenen.

Der interessierte Leser wird sich fragen, warum man damals so viele Altäre in Roßtal, einem Ort, der von den Zeitgenossen als Dorf bezeichnet wurde, benötigte? Zwei Gründe gab es dafür, die uns einen tiefen Einblick in das mittelalterliche Kirchenleben in Roßtal eröffnen. Schon in der Zeit des frühen Christentums durfte an einem Altar nur einmal am Tag die Eucharistie, das Sakrament des Abendmahls, gefeiert werden.9 Doch die zunehmende Zahl von Priestern, vor allem in Klöstern, und ihre Verpflichtung, täglich am Altar eine Messe zu feiern, führten zur Errichtung von Nebenaltären. Diese Entwicklung setzte bereits im frühen Mittelalter ein. Dazu beigetragen hatte auch das erhöhte Verlangen nach Meßfeiern in den Wallfahrtskirchen, wo täglich die Pilger eintrafen. Ein weiterer Grund für die steigende Zahl von Altären war die wachsende Heiligen- und Reliquienverehrung. Mit dieser Verehrung verbunden war der Glaube, daß die religiöse Kraft des Heiligen auch nach seinem Tode an jedem einzelnen Körperteil haften bleibt und diese Kraft auf den Verehrenden übergeht.10 Diese Reliquien wurden in kleinen und oftmals künstlerisch gestalteten Gefäßen im Inneren des Altars, meistens sichtbar, aufbewahrt.

Gestiftet wurden die Altäre von vermögenden Einzelpersonen oder auch Familien. Mit dieser Stiftung verbunden waren alljährliche Meßfeiern und Fürbitten zum Gedenken der verstorbenen Familienmitglieder und Fürbitten für ihr eigenes Seelenheil. Der einfache Mensch konnte sich eine solche Stiftung finanziell nicht leisten, dazu fehlte ihm das Geld, denn für die Errichtung eines Altars mußte kein geringes Vermögen aufgebracht werden, was folgender Vergleich veranschaulicht. In der Zeit um 1500 kostete ein durchschnittlicher Altaraufsatz 500 Goldgulden. Dürer bezahlte in der gleichen Zeit für sein Haus in Nürnberg 553 Goldgulden.11 Nachdem die Roßtaler Kirche 6 wertvoll geschnitzte Altäre schmückte – bei den 3 Altären auf der Empore muß es sich aus Platzgründen um kleinere Altäre gehandelt haben – dürfte der finanzielle Aufwand für einen Altaraufsatz noch wesentlich größer gewesen sein. In diesen Stiftungen spiegelt sich auch eine tiefe Verehrung wider, die der hl. Irmingard entgegengebracht wurde. Daran kann man auch ermessen, welche Bedeutung Roßtal als Wallfahrtsort in mittelalterlicher Zeit hatte. Es waren nicht nur arme sondern auch vermögende und vielleicht auch einflußreiche Menschen, die mit ihren Nöten und Leiden zum Hochgrab der heiligen Irmingard pilgerten und auf Hilfe hofften.

In diesem Zusammenhang wird auch die außergewöhnliche Größe des Pfarrhauses verständlich. Es war nicht die Wohnstätte eines einzelnen Dorfpfarrers, sondern es muß wegen der Wallfahrer stets mehrere Priester beherbergt haben, die ja im Zölibat lebten und daher wenig Wohnraum in Anspruch nahmen. Die finanziellen Mittel für den Bau eines so schönen und prachtvollen Fachwerkhauses kamen sicherlich aus verschiedenen Quellen, deren gemeinsamer Grund die Verehrung der hl. Irmingard war. Die Einwohner Roßtals selbst waren dazu nicht in der Lage.

Die Laurentiuskirche war jedoch nicht die einzige Kirche in Roßtal. Daneben gab es noch die Bartholomäuskapelle. Ihr angeschlossen war ein Siechkobel, ein Krankenhaus für Aussätzige. Der Flurname »In der kapell« in der Fürther Straße erinnert heute noch daran, wo einst diese Kapelle stand. Weiteres ist uns über diese Kapelle nicht überliefert.

Eine weitere Kirche – die Jakobskapelle – stand in der nordwestlichen Friedhofsecke und war wahrscheinlich für die Jakobspilger auf ihrem Weg nach Santiago de Compostela in Spanien bestimmt. Auch über diese Kapelle ist uns wenig bekannt. Sie wurde im Jahr 1521 neu eingeweiht – ihr Gründungsjahr muß also weiter zurückreichen – und 1802 abgebrochen.12

In der einleitend erwähnten kanonialen Sonnenuhr, die heute noch fast unscheinbar in den Kirchturm eingemauert ist, spiegelt sich eine bedeutende Vergangenheit für Roßtal wie auch für die Laurentiuskirche wider. Erst durch das Hinterfragen des Sinns und Bedeutung dieser Sonnenuhr, eines der wenigen Exemplare, die man heute noch in Europa kennt, erschließt sich ein interessanter Teil der mittelalterlichen Geschichte Roßtals. Und erst durch das sinnvolle Zusammenfügen einiger weniger Hinweise aus der frühen Vergangenheit wie der Name der Stifterin der Kirche, die Wallfahrten und die 9 Altäre nebst anderen geschichtlichen Erkenntnissen eröffnet sich ein mittelalterliches Bild über das kirchliche Leben in Roßtal, wie es in dieser komprimierten Form wohl bisher nicht allseitig bewußt war. Und wer mit diesem Wissen in Zukunft diese kleine Sonnenuhr betrachtet, der wird wohl an die Verehrung der hl. Irmingard, die vielen Pilger und die einst reich ausgestatte Roßtaler Kirche erinnert werden.

Anmerkungen:

1Rosstal, Vergangenheit und Gegenwart, S. 315.
2a. a. O. S. 328.
3Um das Jahr 1500 gab es laut Kreutzer (Heimatbuch Roßtal 1978/79, Seite 107) auf dem oberen Markt 26 Anwesen. Rechnet man pro Anwesen 7 Personen (Eltern, Großeltern und 3 Kinder), dann kommt man einschließlich des Schwalbenhofs auf 189 Personen.
4Siehe hierzu »Roßtal – 1050 Jahre Heimat«, S. 75 ff. G. Liebert, Die Heilige Irmingard, Erbauerin der Roßtaler Kirche.
5Stefan Weinfurter, Heinrich II., Herrscher am Ende der Zeiten, S. 86 ff.
6In der Bayerischen Staatsbibliothek in München wird ein Dokument autbewahrt, in welchem Irmingard als Äbtissin bezeichnet wird.
7Der heutige mittelfränkische Raum war damals nach herrschender Meinung noch Königsland.
8Rosstal, Vergangenheit und Gegenwart, S. 106 f. Das Gasthaus »Zur Sonne« fiel im April 1979 einem Brand zum Opfer.
9Arnold Angenendt, Geschichte der Religiosität im Mittelalter, S. 433.
10Reliquie (lat.) = Überrest, Zurückgelassenes (Körperteile und Gegenstände des Heiligen).
11Arnold Angenendt, a. a. O., S. 498.